Fachkräftemangel und die Rolle des Arbeitsschutzes (2024)

Fachkräftemangel

Die aktuelle Diskussion um den Fachkräftemangel in Deutschland

Deutschland steht vor einer großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderung: der demografisch bedingte Fachkräftemangel. Dieser droht, sich zu einer tickenden Zeitbombe für unseren ökonomischen Standort zu entwickeln und könnte die Lebensqualität zukünftiger Generationen erheblich verschlechtern. In Reaktion darauf hat die Bundesregierung bereits ein breites Maßnahmenpaket ins Leben gerufen. Dieses Paket zielt unter anderem darauf ab, Deutschland für qualifizierte ausländische Fachkräfte attraktiver zu machen, das duale Ausbildungssystem zu stärken und die Digitalisierung voranzutreiben, um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen (Fachkräftestrategie der Bundesregierung).    

Ausbildung, Arbeitsproduktivität, Fachkräftezuwanderung

Quelle: Ausbildungen, Arbeitsproduktivität, Fachkräftezuwanderung

Neben diesen zentralen Themen ist ein oft wenig belichtetes, aber wichtiges Element im Kampf gegen den Fachkräftemangel die Gesundheit und Sicherheit des Beschäftigten und damit einhergehend deren langfristige Teilnahme am Arbeitsleben. Dafür kann der Arbeitsschutz nicht nur fachlich relevanten Input liefern, sondern auch als leuchtendes Beispiel vorangehen. Denn während das durchschnittliche Renteneintrittsalter in Deutschland bei etwa 64 Jahren liegt (Renteneintrittsalter), ist der durchschnittliche Arbeitsmediziner, Stand 2017, bereits über 61 Jahre alt (Statistik Arbeitsmedizinische Fachkunde).  

Deshalb möchten wir den Fokus der Diskussion um den Fachkräftemangel auf den aktuellen Stand der Gesundheit und Sicherheit in deutschen Unternehmen richten. Unsere Primärquelle dafür ist die aktuelle repräsentative Studie „Arbeitsberichterstattung aus Sicht der Beschäftigten“ von ver.di für den Dienstleistungssektor in Deutschland. Diese liefert nicht nur wertvolle Einsichten in die wahrgenommenen Arbeitsbedingungen aus Sicht der Angestellten, sondern auch Anhaltspunkte dafür, wie Unternehmen in unterschiedlichen Branchen die Arbeitsumgebung gesundheitsfördernder gestalten können, damit ihre Mitarbeiter gesund und sicher bis zum Renteneintrittsalter und, wenn gewünscht, darüber hinaus arbeiten können.  

Arbeit bis zur Rente: Die Qualität der Arbeitsbedingungen ist entscheidend

Pünktlich zum Tag der Arbeit veröffentlichte ver.di die aufschlussreiche Studie auf Basis einer Repräsentativumfrage mit dem DGB-Index Gute Arbeit. Die Untersuchung liefert Einblicke in die Arbeitsbelastungen im Dienstleistungssektor in Deutschland, einem Sektor, der besonders unter dem Fachkräftemangel leidet. Die Umfrage unter knapp 4.800 Beschäftigten zeigt, dass sich lediglich 54% der Befragten vorstellen können, unter den gegebenen Arbeitsbedingungen ohne Einschränkungen bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter durchzuhalten.

Arbeitsfähigkeit bis zur Rente nach Qualität

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der ver.di Studie

Für eine Nation, die als das Mutterland des Arbeitsschutzes gilt, sind diese Zahlen eine besonders beunruhigende Entwicklung. Sie unterstreichen das Risiko einer Zunahme von Frühverrentungen, die den Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt weiter verschärfen könnten, und signalisieren eine ernsthafte Gefährdung für die Gesundheit und Sicherheit von Millionen von Fachkräften. 

Bemerkenswert sind auch die branchenspezifischen Unterschiede: Während in der Informationstechnologie 80% der Beschäftigten glauben, bis zum Renteneintritt arbeiten zu können, ist die Lage in anderen Branchen alarmierend: Vor allem in dem Gesundheitswesen, in Heimen und Sozialwesen sowie der Erziehungsbranche, wo nur 36%, bzw. jeweils 47% der Befragten davon ausgehen, ohne Einschränkungen bis zum Rentenalter arbeiten zu können. Denn dies sind eben jene Sektoren, die durch die alternde Gesellschaft besonders stark im Fokus des Fachkräftemangels stehen. 

Die Studienergebnisse zeigen deutlich, dass die Qualität der Arbeitsbedingungen einen entscheidenden Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit bis ins hohe Alter hat. Denn 81% der Beschäftigten, die ihre Arbeitsumgebung als gut bewerten, sind überzeugt, ihre Karriere bis zur Rente fortsetzen zu können. Im krassen Gegensatz dazu stehen die 61% der Fachkräfte mit schlechten Arbeitsbedingungen, die sich eine uneingeschränkte fortgesetzte Beschäftigung bis zum Renteneintritt nicht vorstellen können.  

Arbeitsfähigkeit bis zum Renteneintrittsalter unter derzeitigen Anforderungen in jetziger Tätigkeit

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der ver.di Studie

Risikofaktoren für gesundheitsfördernde Arbeit

Forschungsergebnisse zeigen immer wieder, dass dauerhafter Stress und konstanter Zeitdruck im Berufsleben gravierende gesundheitliche Schäden nach sich ziehen können (TK-Stressstudie 2021). Diese Erkenntnisse werden durch die jüngste ver.di Studie bestätigt, die einen indikativen Zusammenhang zwischen sinkender Arbeitsqualität und steigendem Stressniveau in Deutschland aufzeigt. Besonders besorgniserregend ist der überdurchschnittlich hohe Stresspegel bei Frauen und jungen Fachkräften bis zum Alter von 26 Jahren. Dieser Befund ist im Kontext des Fachkräftemangels besonders brisant, da die weitere Erhöhung der Erwerbsquote von Frauen und die volle Leistungsfähigkeit junger Arbeitskräfte entscheidend sind, um den wirtschaftlichen Herausforderungen am Arbeitsmarkt effektiv begegnen zu können. 

Nicht nur psychische, sondern auch physische Belastungen beeinträchtigen die Arbeitsfähigkeit über sämtliche Branchen hinweg erheblich. Obwohl schwer körperliche Arbeit in manchen Dienstleistungsbereichen weniger verbreitet ist, berichten immerhin 16% aller Fachkräfte, dass sie sehr häufig körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten ausführen müssen. Auffällig ist dabei der hohe Anteil von Frauen, die mit 20% deutlich häufiger von schweren körperlichen Arbeiten betroffen sind als Männer, von denen nur 11% dies berichten. Auch Lärmbelastungen stellen ein signifikantes Gesundheitsrisiko dar, dem fast 37% der Befragten oft oder regelmäßig ausgesetzt sind. Weniger häufig, aber immer noch bedeutsam sind Konflikte mit Kunden oder Patienten, von denen 25% der Befragten berichten, sie oft oder regelmäßig zu erleben. 

Arbeitshetze, körperliche Schwerbelastung, Lärm und Konflikte

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der ver.di Studie

Die Kombination dieser Faktoren verschärft das Problem: Circa 87% der Befragten leiden sehr häufig bis selten unter mindestens zwei der genannten Risikofaktoren. Die Qualität der Arbeitsbedingungen spielt dabei eine entscheidende Rolle – je schlechter diese sind, desto stärker und häufiger treten diese Belastungen auf. Denn in Betrieben mit schlechten Arbeitsbedingungen steigt der Anteil von 87% auf 99% der Befragten.

Die Rolle des Arbeitsschutzes bei der Bewältigung des Fachkräftemangels/ Rolle der Gefährdungsbeurteilung am Arbeitsplatz

Die durch die Studie aufgezeigten intensiven Arbeitsbelastungen führen nicht nur zu einer verkürzten Lebensarbeitszeit und geminderten Lebensqualität, sondern verschärfen auch den Fachkräftemangel in allen Branchen. Ein effektiver Arbeitsschutz kann jedoch die Gesundheit und Sicherheit der Fachkräfte bis ins hohe Alter gewährleisten und eine ununterbrochene Beschäftigung bis zur Rente und darüber hinaus ermöglichen. Die Basis hierfür bietet die arbeitsmedizinische und sicherheitstechnische Grundbetreuung sowie die darauf aufbauende betriebsspezifische Betreuung. 

Ein in diesem Zusammenhang zentrales Element ist die Gefährdungsbeurteilung. Nach § 5 Abs. 1 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) sind Arbeitgeber in Deutschland verpflichtet, sowohl physische als auch psychische Gefährdungen zu ermitteln und zu minimieren. Hierbei wird in der Regel auf die Expertise von Fachkräften für Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin zurückgegriffen, die endgültige Verantwortung liegt jedoch immer beim Arbeitgeber selbst. 

Erstaunlicherweise berichteten jedoch nur 36% der Teilnehmer in der ver.di-Studie, dass in ihrem Betrieb in den letzten zwei Jahren eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wurde. Obwohl das Gesetz keine spezifische Frequenz für diese Bewertungen vorschreibt, wird empfohlen, sie mindestens alle zwei Jahre zu aktualisieren. Besonders besorgniserregend ist, dass vor allem in Unternehmen mit schlechten Arbeitsbedingungen deutlich seltener Gefährdungsbeurteilungen stattfinden. 

Wurde in den letzten zwei Jahren eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt - Qualität

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der ver.di Studie

Kleinstunternehmen und kleine Betriebe mit weniger als 50 Mitarbeitern sind besonders durch fehlende Gefährdungsbeurteilungen betroffen: Über 50% der Befragten in diesen Betrieben gaben an, dass in den letzten zwei Jahren keine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wurde. Aktuell arbeiten knapp 40% aller Beschäftigten in Deutschland in diesen beiden Unternehmensklassen. Projiziert man die Daten über fehlende Gefährdungsbeurteilungen vom Dienstleistungssektor auf die Gesamtwirtschaft, arbeitet mehr als ein Fünftel der Deutschen Belegschaft in Kleinstunternehmen und kleinen Unternehmen ohne aktuelle Gefährdungsbeurteilung (Beschäftigte nach Unternehmensgrößenklasse 2021).

Wurde in den letzten zwei Jahren eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt - Unternehmen

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis ver.di Studie

Trotz der fehlenden genauen Zahlen zu den durchgeführten arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen lassen die hohen Belastungen durch z.B. Lärm und die Vernachlässigung der Gefährdungsbeurteilungen vermuten, dass auch notwendige Vorsorgeuntersuchungen oft ausbleiben. Dies verdeutlicht ein dringendes Bedürfnis nach verbesserten Arbeitsschutzmaßnahmen in deutschen Unternehmen.

Zwar hat die Bundesregierung beispielsweise durch das Arbeitsschutzkontrollgesetz die Bedingungen in Deutschland verbessert. Das Ziel, den Arbeitsschutz zu verbessern wird jedoch nur gelingen, wenn Arbeitgeber die Gesundheit und Sicherheit ihrer Mitarbeiter zu einem Prioritätsthema erklären.

Was können vor allem Kleinstunternehmen und kleine Unternehmen tun, um die Sicherheit und Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu stärken

Viele kleinere Unternehmen in Deutschland greifen auf das Unternehmermodell zurück, bei dem externe Arbeitsschutzexperten nur bei Bedarf eingesetzt werden. Dieses Modell darf von Betrieben mit bis zu 50 Mitarbeitern genutzt werden. Doch in der Hektik des Alltagsgeschäfts kann der Arbeitsschutz dabei schnell in den Hintergrund rücken, besonders wenn die Geschäftsführung alle Fäden in der Hand halten muss. Andere Betriebe verzichten ganz auf Arbeitsschutzmaßnahmen, sei es aus Unwissenheit, aus Kostengründen oder weil weder Arbeitnehmer noch Aufsichtsbehörden Druck ausüben. 

Dabei muss effektiver Arbeitsschutz weder kompliziert noch teuer sein. Viele Dienstleister bieten sogenannte Kleinstverträge an, die speziell auf die Bedürfnisse von Kleinst- und kleinen Unternehmen zugeschnitten sind. Diese Verträge konzentrieren sich oft auf die Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung durch Arbeitsmediziner und Sicherheitsexperten. Zusätzlich bieten viele Dienstleister basierend auf diesen Beurteilungen auch spezifische Unterstützung an, zum Beispiel die Durchführung von Angebots- und Pflichtvorsorgen für unterschiedliche Branchen. 

Die Kosten sind abhängig von den spezifischen Bedingungen des Betriebs, liegen aber meist im unteren vierstelligen Bereich pro Jahr. Vergleicht man dies mit den durchschnittlichen Kosten eines Produktionsausfalls von 133 Euro pro Tag (Volkswirtschaftliche Kosten durch Arbeitsunfähigkeit), amortisieren sich die Ausgaben für Arbeitsschutz schnell. Zwar liegen uns keine genauen wissenschaftlichen Studien vor, die beziffern, wie viele Ausfalltage durch guten Arbeitsschutz eingespart werden können. Doch selbst eine vorsichtige Schätzung von 15% bei durchschnittlich 21,3 Ausfalltagen pro Jahr  
(Volkswirtschaftliche Kosten durch Arbeitsunfähigkeit) lässt einen Produktivitätsgewinn von 425 Euro je Mitarbeiter erwarten. Nicht zu vergessen ist der Motivationsschub, den Fachkräfte erfahren, wenn sie merken, dass ihr Arbeitgeber sich ernsthaft um ihre Sicherheit und Gesundheit kümmert. 

Produktionsausfall je AU-Tag und indikativer ”konomischer Beitrag des Arbeitsschutzes

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Studie „Volkswirtschaftliche Kosten durch Arbeitsunfähigkeit 2022

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Zusammenfassung und Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass guter Arbeitsschutz zwar den Fachkräftemangel nicht direkt lösen kann, aber einen wesentlichen Beitrag leistet, um ihn zu mildern und die Arbeitsfähigkeit der Fachkräfte bis zum Renteneintrittsalter und darüber hinaus zu erhalten. In vielen Kleinst- und kleinen Unternehmen über unterschiedlichste Branchen wird dem Thema Sicherheit und Gesundheit oft zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Gründe sind meist Unwissenheit, Kostendruck und Kapazitätsengpässe. Externe Experten können hier eine wichtige Unterstützung bieten. Sie übernehmen auf der Grundlage speziell zugeschnittener Verträge zahlreiche Aufgaben im Bereich des Arbeitsschutzes, die auf die Bedürfnisse von Kleinst- und kleinen Unternehmen abgestimmt sind. 

Redaktion: Oliver Schmied (CFO Betriebsarztservice)

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Nils Olms
Facharzt für Arbeitsmedizin und Innere Medizin
Nils Olms - Arbeitsmedizin

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