Arbeitsmedizin der Zukunft: Chancen für eine bessere Gesundheitsversorgung von Beschäftigten in Deutschland
Digitalisierung ist aus unserem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken. Privat kaufen wir Lebensmittel via App, zahlen unsere Rechnungen mit dem Smartphone oder buchen unsere Arzttermine digital. Auch im beruflichen Leben ist Technologie ein ständiger Begleiter. Wir verwalten unsere Mitarbeiter in digitalen HR-Management-Plattformen, managen unsere Kundenbeziehung über CRMs oder strukturieren unsere Daten mit Business Intelligence Tools. Nur die Arbeitsmedizin scheint bisher im 20. Jahrhundert stehen geblieben zu sein. Denn viele bestehende Anbieter operieren weiter in veralteten analogen Strukturen, nutzen die Möglichkeit zur telemedizinischen Betreuung kaum und legen den Fokus zu selten auf die zunehmend individuellen Betreuungsanforderungen der Kunden und deren Mitarbeiter. Vor dem Hintergrund einer bereits heute prekären Versorgungslage und der zunehmenden Entfremdung mit dem Thema Arbeitsschutz führt das zu enormen Problemen für die Gesundheit und Sicherheit von Millionen Beschäftigter in Deutschland.
Zentrale Probleme des Arbeitsschutzes
Demografischer Wandel in der Arbeitsmedizin
Ein zentrales Problem ist die Unterdeckung des Marktes. Nach Schätzungen der Bundesärztekammer sind zurzeit 9.100 praktizierende Arbeitsmediziner für die Versorgung von knapp 46 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland verantwortlich. Viele dieser Ärzte sind dabei nach unserer Einschätzung lediglich in Teilzeit aktiv. Auch ein Blick auf die Altersstruktur der medizinischen Akteure verdeutlicht das Versorgungsrisiko: Denn mehr als 50% der Arbeitsmediziner sind älter als 65 Jahre. Zwar beobachten wir einen Anstieg der Teilnehmer in den Akademien für Weiterbildung und die Profession wird eher in der zweiten Karrierehälfte angestrebt, sodass tendenziell ältere Ärzte neu in den Arbeitsmedizinmarkt eintreten. Dies wird jedoch die hohe Verrentung der Arbeitsmediziner in den kommenden Jahren nicht kompensieren können. (Bundesärztekammer (2021): Evaluation und Monitoring der arbeitsmedizinischen Versorgung)
Unsichtbarkeit der Arbeitsmedizin
Ein eher schleichendes Problem ist die steigende Unsichtbarkeit der Arbeitsmedizin in der modernen Arbeitswelt. Der gesetzliche arbeitsmedizinische Betreuungsauftrag ist stark auf ortsgebundene Arbeitsplätze ausgerichtet. Die steigende Flexibilität von Ort und Zeit der Arbeit führt jedoch dazu, dass es Arbeitsmedizinern zunehmend schwerfällt, Zugriff auf die versorgten Mitarbeiter zu erhalten. Das zeigt auch eine aktuelle lidA-Studie. (H. M. Hasselhorn, M. Michaelis und P. Kujath (2020): Die Betriebsärztliche Betreuung von Erwerbstätigen – Ergebnisse der repräsentativen lidA-Studie. In ASU, Volume 55, Nr. 3 20. S. 186-191 ). Darin wurde im Rahmen einer Befragung unter 3.039 Erwerbstätigen ermittelt, dass lediglich 24,6% innerhalb der letzten 12 Monate Kontakt zu einem Betriebsarzt hatten. Ein Drittel der Befragten gab sogar an, überhaupt keinen Betriebsarzt zu haben. Auf kleine und schnell wachsende Unternehmen, wie Start-Ups, trifft dies sogar noch häufiger zu. Diese haben oft das Gefühl, dass besonders in der Gründungsphase die Maßnahmen des Arbeitsschutzes nicht zu ihren Zielen und Problemstellungen passen. Das im Vergleich zur kurativen Medizin wenig zukunftsorientierte und oft als rückwärtsgewandt wahrgenommene Image der Arbeitsschutz-Akteure trägt ebenfalls zur steigenden Unsichtbarkeit in den Betrieben bei. Während beispielsweise in der Allgemeinmedizin die telemedizinische Versorgung, oder in der Dermatologie die Verwendung von AI zur Diagnose von Hautkrankheiten bereits häufig Anwendung finden, stecken solche Entwicklungen in der Arbeitsmedizin noch in den Kinderschuhen.
Schwierigkeiten bei der Messbarkeit arbeitsmedizinischer Leistungen
Letztlich wirkt sich auch die fehlende Quantifizierbarkeit des Arbeitsschutzes negativ auf die Versorgung der Erwerbstätigen aus. Arbeitsmedizin ist bis heute stark qualitativ geprägt, wodurch Fortschritte im Bereich Gesundheit und Sicherheit für Entscheidungsträger in Unternehmen wenig greifbar sind. Die wenigsten Unternehmen können aktuell Kennzahlen wie die Unfallquote, Krankheitstage oder Mitarbeiterzufriedenheit in Relation zu arbeitsmedizinischen Maßnahmen wie Vorsorgeuntersuchungen oder Unterweisungen setzen, um so ein ganzheitliches Arbeitsschutz-KPI-System zu implementieren. Insbesondere in einer zunehmend von Data Analytics und Controlling getriebenen Wirtschaft führt dies jedoch zur Kürzung oder Streichung der oft nicht klar messbareren Arbeitsschutzmaßnahmen. Nachgelagert steigt dadurch allerdings häufig die Anzahl der Krankheitstage oder Unfälle. Dieser Zusammenhang wird insbesondere im Arbeitspsychologischen Bereich deutlich, in den vielen Unternehmen bisher kaum investieren. Im Zuge der zunehmenden mentalen Belastungen für Erwerbstätige zeigt ein aktueller Report der DAK einen Anstieg der Krankheitstage je 100 Versicherter von 196 Tagen in 2011 auf über 276 Tage in 2021 aufgrund von psychischen Erkrankungen. Ursächlich hierfür sind unter anderem berufsbedingte Faktoren wie Stress, Isolation im Home-Office oder Überforderung im Job-Alltag. (DAK (2022): Psychreport 2022 – Entwicklung der psychischen Erkrankungen im Job 2011-2021)
Arbeitsschutz der Zukunft: Drei Thesen für mehr Digitalisierung
Abgeleitet aus diesen Kernproblemen lassen sich drei Thesen für die Zukunft des Arbeitsschutzes formulieren, an denen sich auch die Unternehmensstrategie von Betriebsarztservice ausrichtet.
These 1: Die Arbeitsmedizin benötigt effiziente digitale Prozesse für eine bessere Versorgung
Wir brauchen ein stärkeres Bewusstsein für operative Exzellenz und effiziente digitale Prozesse im Arbeitsschutz. Auf der Praxis-Ebene bedeutet dies beispielsweise die konsequente Einführung einer sicheren und effizienten digitalen Patientenakte (ePA), den Einsatz smarter Terminmanagement-Lösungen oder die Nutzung von Best Practices aus dem Projektmanagement wie Kanban-Boards zur Praxisorganisation. Darüber hinaus muss auch die Erreichbarkeit durch den Einsatz von Telemedizin oder speziellen AI-basierten Chatbots verbessert werden. Auch auf Ebene der versorgten Unternehmen muss der Arbeitsschutz effizienter werden. Dafür benötigen die entsprechenden Stakeholder skalierbare Tools, welche die komplexen Anforderungen im Bereich Arbeitsschutz einfach und transparent darstellen. Das kann beispielsweise durch digitale Vorsorgekarteien oder Unterweisungsregister erfolgen, welche die Verantwortlichen automatisch an Fristen erinnern und Termine direkt mit dem Arbeitsmediziner vereinbaren. Daraus resultieren zwei große Fortschritte: Effizientere Prozesse erhöhen den Anteil der Beratungszeit, den die Arbeitsmediziner tatsächlich für Unternehmen und deren Mitarbeiter zur Verfügung haben. Außerdem sinken die Interaktionshürden auf Unternehmensseite, sodass der Arbeitsschutz, welcher im Tagesgeschäft oft wenig Beachtung findet, in den Fokus der verschiedenen Stakeholder rückt. Das Resultat ist eine verbesserte präventive Versorgung der Beschäftigten.
These 2: Digitale Tools sollten Einzug in die Arbeitsmedizin finden, um die Verfügbarkeit und Transparenz arbeitsmedizinischer Leistungen für Unternehmen und Mitarbeitern zu erhöhen.
Digitale Kanäle müssen intensiver genutzt werden, um den Zugriff der Arbeitsmedizin auf Unternehmen und Mitarbeiter skalierbarer zu gestalten. Die verstärkte Nutzung telemedizinischer Betreuung zur Verbesserung der Erreichbarkeit der Arbeitsmediziner darf dabei nur der Anfang seien. Darüber hinaus bieten DiGA-Apps und Wearables zunehmend die Möglichkeit, die Gesundheit und Sicherheit von Erwerbstätigen in Echtzeit zu überwachen. Beispielsweise können Sensoren dafür verwendet werden, Indikatoren wie die Luftqualität, Herzfrequenz oder das körperliche Aktivitätsniveau eines Mitarbeiters zu erfassen und diesen zu warnen, wenn potenzielle Gesundheitsprobleme auftreten. Auch der Betriebsarzt kann diese Daten im Rahmen regelmäßiger Vorsorgeuntersuchungen nutzen, um die präventive Betreuung noch besser an den individuellen Gefährdungslagen und Bedürfnissen der Beschäftigten auszurichten. Daneben existieren zahlreiche Fortschritte im Bereich der digitalen Befunderhebung. Neue Möglichkeiten zur Durchführung von telemedizinischen Seh- und Hörtests oder im Bereich der Teledermatologie können beispielsweise zur ortsunabhängigen Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen der Mitarbeiter im Home-Office genutzt werden.
These 3: Die positive Wirkung der arbeitsmedizinischen Betreuung muss für die Entscheider in den Betrieben greifbarer werden.
Der Arbeitsschutz muss seinen positiven Einfluss auf die Arbeitswelt quantifizierbar machen, um den Beratungserfolg im Bereich Gesundheit und Sicherheit und den damit verbundenen betriebswirtschaftlichen Nutzen messbar zu machen. Ein teilweise bereits heute existierendes erfolgreiches Beispiel ist die digitale psychologische Gefährdungsbeurteilung bei der zunächst in einer Online-Befragung der Beschäftigten der „mentale“ Status-Quo erfasst wird. Anschließend entwickeln Psychologen zusammen mit den Verantwortlichen im Unternehmen Maßnahmenpakete, um die identifizierten Problemfelder zu verbessern. Abschließend wird der Effekt der Maßnahmen im Rahmen einer Folgebefragung evaluiert und messbar gemacht. Ein weiterer interessanter Ansatz ist die Herstellung von kausalen oder korrelativen Zusammenhängen verschiedener Arbeitsschutzmaßnahmen und Key Performance Indikatoren wie dem Produktivitätslevel, der Krankheitsquote oder der Anzahl der Arbeitsunfälle. Über eine strukturierte und digitale Datenerhebung und -sammlung kann dadurch der Arbeitsschutz als Einflussfaktor auf den ganzheitlichen Unternehmenserfolg messbar gemacht werden.
Fazit
Die Arbeitsmedizin steht vor einer historischen Transformation, welche die Versorgung der Beschäftigten in Deutschland erheblich verbessern kann. Dieser Wandel wird durch die demografischen Entwicklungen in der Belegschaft der Arbeitsmediziner, die zunehmende Unsichtbarkeit der Arbeitsmedizin in der modernen Arbeitswelt und die Schwierigkeiten bei der Erfolgsmessung arbeitsmedizinischer Leistungen beschleunigt. Der konsequente Einsatz, der bereits heute existierenden technischen Möglichkeiten in der Betreuung kann diese Herausforderungen im Sinne einer Verbesserung der Versorgungsstruktur lösen. Unsere Thesen können dabei als Leitfaden für die zukünftige Entwicklung der Arbeitsmedizin dienen:
- Die Arbeitsmedizin benötigt effiziente digitale Prozesse für eine bessere Versorgung
- Digitale Tools müssen Einzug in die Arbeitsmedizin halten, um die Verfügbarkeit und Transparenz arbeitsmedizinischer Leistungen für Unternehmen und Mitarbeitern zu erhöhen
- Die positive Wirkung der arbeitsmedizinischen Betreuung muss für die Entscheider in den Betrieben greifbarer werden
Nach unserer Erfahrung sind Unternehmen offen dafür, neue Lösungen gemeinsam mit innovativen Anbietern zu evaluieren und umzusetzen. Denn die draus resultierende Verbesserung der Gesundheit, Sicherheit und des Wohlbefindens ihrer Mitarbeiter führt auf einem immer stärker umkämpften Arbeitsmarkt zu einem bedeutenden Wettbewerbsvorteil. Bis zur Umsetzung dieser drei Thesen müssen die Akteure im Arbeitsschutz zwar noch viele wichtige Meilensteine erreichen und den Rahmen für einen zukunftsorientierten Arbeitsschutz setzen. Wir sind jedoch zuversichtlich, dass die Kombination aus der langjährigen Tradition des Arbeitsschutzes in Deutschland und den neuen technologischen Möglichkeiten dazu führen wird, dass die Arbeitsmedizin auch in Zukunft einen wesentlichen Beitrag zur präventiven Gesundheitsversorgung von Millionen von Beschäftigten leisten wird.
Autor: Oliver Schmied
Über den Autor:
Oliver Schmied ist seit 2021 bei der Betriebsarztservice Holding GmbH und verantwortet als CFO den Bereich Corporate Finance und die strategische Weiterentwicklung des Unternehmens.
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